Gabriele Beßler_Jede Natur begehrt ihr Sein und ihre Vollkommenheit1

Wo ist die ‚universelle Urzelle’ zu lokalisieren, von der das Leben und seine mannigfachen Erscheinungsformen ihren Ausgang nahmen? Die Biologie, seit dem 19. Jahrhundert eine der, wenn nicht die Leitwissenschaft, sucht bis heute Antworten auf diese Frage – an Theorien dazu fehlt es nicht. Dem Genom auf der Spur, scheint man ihr auch empirisch näher zu kommen. Zwei weitere zentrale Fragen drängen sich dabei auf: Kommt Gestalt/Leben erst mit dem Sein in die Welt? Ist der Ursprung also reines Vakuum – das Nichts?
Seit der Antike wird ein Erzeugerprinzip zugrundegelegt: monas, eine Einheit, das Unteilbare. Sie ist die kleinste substantielle Einheit, metaphysischer Urgrund der Zahl. Sie markiert die Scheidung zwischen dem Unergründlichen und dem Zähl- bzw. Teilbaren: im biologischen, philosophischen und ‚schöpferischen’ Sinn. Als „architectus mundi“ glaubte man in der mittelalterlichen Mystik Gott zu erkennen, der in einem Schöpfungsplan alles mit Maß und Zahl festgelegt hat, und Galilei formulierte am Übergang zur frühen Neuzeit, dass das ‚Buch der Natur’ in der Sprache der Mathematik abgefasst sei – die Zeichen seiner Schrift seien Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren.2 Doch selbst, wenn wir heute jenes Buch mit allen Mitteln der Naturwissenschaften lesen könnten, würde uns das auf den (göttlichen) Ursprung zurückführen bzw. werden wir ihn überhaupt erkennen können?
Die Romantiker, die sich mit den Erscheinungsformen der ‚Natur’ im weitesten Sinne derart auseinander gesetzt haben wie kaum je Künstler vor ihnen, erkannten den Menschen selbst nicht nur als Spiegel ihrer so vielfältigen Gestalt, sondern propagierten seine Sehnsucht nach Wiedervereinigung mit ihr. Philipp Otto Runge etwa war getrieben von naturwissenschaftlichem Impetus und experimentierte mit Farben und Licht, um den Natureindruck in seiner Komplexität wiederzugeben. Angesichts seines Zyklus’ der ‚Tageszeiten’ konstatiert er 1808 in einem Brief an Goethe „ein[en] Fortschritt vom Gestaltlosen zum Gestalteten“, und führt weiter aus; „[…] Wie nun die eine Ansicht zu erforschen sucht, wie aus dem Licht und bloß durchs Licht alle Erscheinung entspringt, so sucht die andre, wie alles, was erscheint, in den Ursprung zurückkömmt.“3
Es sind und waren vielleicht immer insbesondere Künstler, deren Streben darin zu liegen scheint, der unergründlichen, sich selbst genügenden Monade, die nach der Interpretation Gottfried Wilhelm Leibniz’ im 17. Jahrhundert nur geistige Materie besitzt4, nicht nur mehr oder weniger bewusst zu werden, sondern Formbehauptungen gegenüberzustellen. Die einen orientieren sich dabei an Vorbildern aus der Natur und deuten sie in individuelle Zeichen und Symbole um, die anderen beziehen die unfassbare (Im)materialität unmittelbarer in ihr Denken und Formwollen mit ein, machen nachgerade diese Dialektik selbst zum Gegenstand ihrer Weltbetrachtung.
Es könnte ja sein, dass das Vakuum des Ursprungs nicht nur im metaphysischen Sinne in dem Moment überwunden werden kann, in dem etwas IST: sei es als Ergebnis eines biologischen oder eines schöpferisch-künstlerischen Aktes. Das Leben beginnt mit einer Zelle oder einem Samenkorn – einer nunmehr teilbaren Einheit – und strebt der Formvollendung zu: einem Baum, einem Fisch, einem Menschen. Analog kann eine Zeichnung oder eine Skulptur und somit die Definition von Fläche bzw. Raum ihren Ausgang von einem Punkt, dem Minimum einer geometrischen Größe, nehmen.
Heike Kern ist sich der Bedeutung eines jeden vermeintlich unbedeutenden Anfangs so bewusst, dass er als gleichsam gefasste Quelle ein zentrales, wenn nicht das zentrale Movens ihres künstlerischen Tuns ist. Sie verliert ihn kaum je aus dem Blick. Die Endlichkeit der daraus immer neu entwickelten Formen rekurriert auf die Unendlichkeit (mit)gedachter Monaden. Physikalisch gefasst, wäre an eine Parallelführung von Materie und (unsichtbarer) Nicht-Materie zu denken.
Diese Bezüge sind im Werk der Künstlerin hauptsächlich in zwei Grundkonstanten erkennbar: in der Zahl bzw. im Zählen objekt-/bildkonstituierender Elemente und – besonders bei den skulpturalen Arbeiten – in der Spezifik des Materials. Hinzu kommt die jeweilige Technik der Umsetzung. Ihre bevorzugten Medien sind alternierend Zeichnung, Skulptur und Installation.
Eine wesentliche Kulturtechnik, zu der Heike Kern immer wieder zurückkehrt, ist das Häkeln. Im künstlerischen Zusammenhang nach wie vor eher ungewöhnlich, wenngleich spätestens seit Rosemarie Trockels Wirken vom Malus des „typisch Weiblichen“ befreit. In Kerns Œuvre mag es deshalb eine Hauptrolle zukommen, da sich wie bei kaum einer anderen Formgebung bereits mit der ersten Masche das Nebeneinander von Materie und Nicht-Materie dialektischerweise dingfest machen lässt: Faden und Häkelnadel definieren mit der initialen ‚Luftmasche’ eine leere Mitte, die unauslöschlich als Vakuum bzw. ‚Ort aller Möglichkeiten’ im Zentrum verbleibt, ganz gleich welche Gestalt die sich daraus fort entwickelnde Arbeit auch immer annimmt. Welche Gestalt aus der Mitte hervorgeht, ergibt sich auch aus der Zählung; d.h. dem Fortschreiten solcher Arbeiten ist immer ein Strukturprinzip zugrundgelegt, so dass aus Maschen-Verdoppelungen bzw. -Vervielfachungen raumgreifende Objekte resultieren. Seit den 90er Jahren entstehen, mitunter über längere Zeiträume, monumentale Kreisformen, Zylinder oder auch antropomorphe Gebilde, die sich durch regelmäßige Vervielfachungen bestimmter Maschen – entsprechend einer Zelle – geradezu organisch zu einem Wachstumsende hin zu entwickeln scheinen, wie die Arbeit „10 Generationen“. Demgegenüber manifestiert sich beispielsweise anstatt infolge des Zählens im Akt des Wiederholens – als reines „Luftmaschenmachen“ – eine schier überquellende Kugelmasse mit dem Titel „1 Jahr lang auf der Stelle häkeln“. Theoretisch bis ins Unendliche fortdenk- wenn nicht fortsetzbar.
Dieses Gestaltsuchen funktioniert auch mit anderen Materialien und Techniken, etwa mit Silikon, Eisen und Kupfer oder dem Direktguss in Bronze und Aluminium, dessen Reaktionsfähigkeit Heike Kern jüngst ausprobierte. Jene Kleinskulpturen transportieren oder konservieren in ihrer Erstarrung gleichwohl die Leichtigkeit des textilen Materials, das ihnen vorausgeht. Zu dem, was ist, kommt also ein Davor hinzu und impliziert dennoch nicht nur eine zeitliche Dimension.
Mit der plastischen Arbeit ist die zeichnerische untrennbar verbunden; beide Ansätze bedingen einander, ja können nicht ohne einander gedacht werden. Auch die Zeichnung ist immer strukturell und in Bezug zu Raumfragen zu lesen. Aber selbst wenn eine Zeichnung etwa zum Ausloten räumlicher Elemente vor ihrer Realisation in der 3. Dimension dient, ist sie dennoch nicht als reine Skizze oder Entwurf zu verstehen. Geht es der Künstlerin im Dreidimensionalen u.a. um die Evokation von Raum und Volumen, beschäftigt sie in der Fläche, ausgeführt mal in Tusche, Bleistift oder Aquarell, vor allem die Grenze zwischen Feld und Form.
Skizzenhafte Orientierung oder gar Abbilder von natürlichen Strukturen gibt es gleichwohl: Da findet sich dann die Komplexität ‚gewachsener’ Umrisse, also Masse oder Volumen, vielfach auf radikale Dekonstruktionen wie Punkte und Linien heruntergebrochen, die an eine Art ‚Urvokabular’ erinnern – das sui generis den Übergang vom Unaussprechlichen/Unfassbaren zum Gestaltwerden markiert.
Auf dem Papier wachsen gleichsam Organismen, denen etwa die Fragestellung zugrunde liegt, welche Verzweigungen sich durch die regelmäßige Verdoppelung von Linien ergeben, oder welche Formkonstellationen eine mehr oder weniger verdichtete Anordnung von Punkten oder aber die Überlagerung von Gitterstrukturen hervor bringt. Das ‚Wachstumsende’ ist nolens volens durch das Format des Blattes terminiert, oder es wird von der Künstlerin durch ausgesparte Randzonen definiert. ‚Unendlichkeit’ wird hingegen evoziert, wenn der Blattrand keine Grenze mehr darstellt.
Es zeigt sich, dass manche solcher willkürlich in Gang gesetzten Gestaltungsprozesse schon nach wenigen Verzweigungen und Teilungen absolute Formbehauptungen formulieren, Arbeiten sowohl in der Fläche wie im Raum also geradezu zwangsläufig ein Ende finden. Diesen Umstand zieht Heike Kern sowohl beim Häkeln als auch beim Zeichnen mit ins Kalkül, insbesondere dann, wenn etwa eine weitere Addition von Maschen oder Punkten und damit zusätzliche Verzweigungen keinen Mehrwert ergeben, Anfang und Ende gleichsam (vor-)gegeben sind und somit in eins zusammen fallen.
Komponierte Materialien oder zeichnerische Elemente können aber auch, wie bereits angedeutet, an organische Strukturen erinnern. Nicht zuletzt durch serielle Wiederholung lösen sich solche Strukturen jedoch bisweilen von konkreten Formvorstellungen von Natur auf und deuten auf etwas anderes, Mögliches hin.
Das Potential der Möglichkeiten findet sich vielleicht am eindrücklichsten, gleich ob Einzelarbeit oder Installation, wenn Formfülle Leere greifbar werden lässt. Auf dem Papier sind Striche oder Kreise demnach nicht nach dem Prinzip des horror vacui, also der Angst vor der Leere oder der leeren Fläche aufgetragen, sondern im Wissen um oder besser: in bewusster Akzeptanz ihrer Existenz. Anstatt das Vakuum des Ursprungs zu ignorieren, wird es mit dem ersten Ansetzen des Zeichenstiftes oder auch der ersten Häkelmasche angedeutet – und gleichzeitig überwunden; scheinbar. Es bleibt die gestaltlose Monade, die allem eine Richtung gibt.

Gabriele Beßler / Juli 2012


1 Thomas von Aquino, Summe der Theologie [1275-1273], hrsg. v. Joseph Bernhard, Bd. 1, Art. 48, 1 (S. 214), Stuttgart 1985
2 In Anlehnung an Richard Schröder, Schöpfung, in Gen-Welten, Ausstellungskatalog, Bonn 1998, S. 53, Anm.9
3 Zitiert nach Karl Privat, Philipp Otto Runge, Berlin 1942, S. 270
4 Die fensterlosen Monaden sind als Urgrund allen seins als punktförmige Substanzen vorstellbar, die aus sich heraus als Kraftzentren wirken. („Die Monaden/ wovon wir allhier reden / sind nichts anderes als einfache Substanzen / woraus die zusammen gesetzten Dinge oder composita bestehen. Unter dem Wort einfach/ verstehet man dasjenige/ welches keine Teile hat“ – §1 der Leibnizschen Monadologie; vgl. http://leibniz.de.ki/#) Sie können nicht von außen verändert oder manipuliert werden.