Rosita Nenno_Mendelsche und andere Linien

Heike Kern beobachtet. Und sie denkt nach. Über das Warum und das Wie. Und dann zeichnet sie oder sie häkelt oder sie schweißt Eisenringe zusammen. Und die arrangiert sie: 5, 10, 15, 29 Gleiche, gedreht und gewendet. Und was daraus entsteht, das verblüfft. So offensichtlich werden Zusammenhänge aus der Natur, werden geometrische und arithmetische Gleichungen aufgestellt. Was! – Sowas trockenes? Wie: Nachsitzen in der Schule und erhobener Zeigefinger? Ha! – Weit gefehlt. Denn leichtfüßig kommen die Reihen daher, balancieren auf schmalen Stegen und halten sich gegenseitig in der Balance. Wie gut, dass Eisen rostet oder die mit dem Lötbrenner aufgebrachte Zinnschicht so rau ist: die Reibung des Materials selbst hält die Konstruktionen in sich, deren Gleichgewicht sonst durch ein Pusten gefährdet scheint: BITTE NICHT BERÜHREN! – sonst war alles für die Katz.
Aber da gibt es ja noch die Zeichnungen im Raum, ob in Rom oder im DLM Offenbach, deren flimmernde Linien aus Silikon mit ihren so haptischen Knötchen in Gardinen-Schienen oder an schwenkbaren Garderoben-Halter-Armen in immer neuen Positionen und Konstellationen zueinander gebracht werden können. Da wird die Kunst ganz interaktiv, ohne dass ein Verändern der Linien gleich die Zerstörung der Zeichnung zur Folge hätte.
Ähnlich wie François Morellet bezieht Heike Kern örtliche Gegebenheiten in ihre Installationen mit ein, ihre Arbeiten entstehen in situ. Da werden Raumpfeiler zu Linien-Haltern, zwischen die (und um sie herum) in geduldigem Gekreise und unter vorher geplanter Einbeziehung des Faktors Zeit die Linien gespannt werden als flirrende Wand, hinter der Bewegungen wie in Zeitlupe zerhackt sind und den ankommenden Besucher irritieren (ein Selbstversuch der Autorin in Würzburg).
Da ist das Ofenrohrloch in der Wand, das die Röhre der Kette-aus-gedrehten-Eisenringen in die Mauer hinein fortsetzt. Oder der Kreis auf dem Boden, aus immer gleichen Silikonschnüren wie Rinnen aus Wasser sich ergießend, der unten das ansetzt, was oben fehlt…
Und überhaupt: die Silikonschnüre. Ihre transparente Materialität siedelt sie an an der Schnittstelle zwischen materiall/immateriall, ihre Linien ergeben keine Geraden, die immer aufgelöst sind durch die Knötchen, ohne jedoch unterbrochen zu sein. Sie bleiben im Fluss.
Im Fluss sind auch Heike Kerns Zeichnungen, deren Linien so oft, einem Herdentrieb folgend, alle das Selbe machen müssen: alle gehen die Treppe hoch, alle knicken um (weil das Blatt zu Ende ist?), alle drehen sich auf und verschnüren sich miteinander. Assoziationen einer anderen Materialität drängen sich dann auf und bringen spannende Zusammenhänge ins Spiel. Seifenblasen – Schaumbad. So lange die weiße Tinte fließt, fließt auch ihr Atem, erst wenn sich der weiße Fluss erschöpft hat, dann darf auch die Zeichnerin wieder neu Luft holen. Der physische Schöpfungsprozess lässt sich so ablesen, nachvollziehen beim Abschreiten der Linie mit dem Auge – ffhhhh – habe ich so viel Puste wie sie?
Das Wie? Und Warum? stand schon Anfang der 90er Jahre im Zentrum von Heike Kerns Arbeiten, als sie sich in ihrer ersten Ausstellung in Grünstadt mit den Mendel’schen Gesetzen beschäftigte. Das serielle Arbeiten hat sie seitdem nicht verlassen, genauso wenig wie das Beobachten, das sie seit einigen Jahren in fotografischen Arbeiten dokumentiert. Ihre Pflanzen tauchen meist im Dutzend auf, weil sie dann so schön das immer selbe Thema variieren…, oder zumindest wiederholt sich an dem einen, konzentriert herangezoomten Ast das immer gleiche Knötchen, die Gabelung, die Knospe. Wen kann es dann noch wundern, wenn in ihren Zeichnungen die Linien aus sich herauswachsen, neue gebären, multiplizieren – aber dann Verwirrung stiften, weil sie (Escher lässt grüßen) wieder in ihren Ursprung zurückfließen. Und lassen sich die Gesetze der Vererbung und Abstammung nicht überall und für jeden „10 Generationen“ zurückverfolgen? Das eine kleine grüne Häkelröhrchen, ganz individuell ICH, als Ergebnis von 2, von 4, von 8… Individuen, in denen ICH mich doch immer wiedererkenne? Vererbung, in Linie. Die Natur darf Natur sein, geklont wird bei Heike Kern nicht. Ähnlichkeiten sind jedoch nicht rein zufällig.
Als selbst ungeduldiger Mensch fasziniert mich immer wieder die Ausdauer, mit der die Künstlerin ihre Gedanken, ihre Entwürfe der Wirklichkeit geduldig in Plastik umsetzt, „ein Jahr lang auf der Stelle häkelt“ und dabei konsequent ihren Weg verfolgt. So simpel, alltäglich ihre Materialien und Techniken auch manchmal scheinen mögen, es sind genau die Mittel, die es ihr erlauben, Improvisationen des gleichen Themas durch die spezifische Materialität, den Glanz, die Struktur, die Unebenheiten, Licht und Schatten zu gestalten. Spannung und Entspannung halten sich denn auch die Waage. Die Schlaufen dürfen so schlaufig über dem Nagel hängen und sich entspannen… doch halt, das ist ja nur langweilig. Also treffen sie sich auch wieder, laufen in einem Punkt zusammen und spannen sich in einem Bogen, oder da hängen diese Teppich-Filz-Neopren-Streifen und enden gar nicht alle gleich. Vielleicht sind sie ja auch überhaupt nicht alle gleich. Oder doch? Oder nicht?! Da kommt schon Irritation auf, wenn sich diese Bänder gescheitelt in ungleiche Strähnen teilen. Fast fies. So klar, so durchschau- und berechenbar. Und dann das. Heike Kerns Plastiken sind ansprechend (nein, ich gleite jetzt nicht in Verunglimpfung ab). Bekannte Materialien, klare Formen, einfache Kompositionen, zugänglich. Simpel wie Carl Andrés Kupferquadrate auf dem Boden. Und genau so komplex. Heike Kern spielt mit den Sehgewohnheiten des Betrachters, überrascht ihn immer wieder aufs Neue mit der scheinbaren Einfachheit ihrer Arbeiten, die sich beim näheren Hinsehen als ausgeklügelte Mikrokosmen zu erkennen geben. Das prägt auch die Kohärenz der Ausstellung – von den frühen Werken Anfang der 1990er Jahre bis heute lässt es sich wie an einer Knötchenschnur an den Arbeiten, den unterschiedlichen Medien entlang hangeln – in Linien, in Schlaufen oder Spiralen aufeinander aufbauend.


Aus:
Heike Kern – linil. Arbeiten 1992 – 2002.
Ausstellungskatalog Museum Pfalzgalerie 2002.
Seite 14 – 20.